Picky Eaters – Frieden am Esstisch

Wenige Themen sind so stark emotional behaftet, wie das Thema „Essen“. Keinesfalls geht es am Esstisch nur um die Nahrungsaufnahme, vielmehr ist das Abendessen der einzige Zeitpunkt des Tages, an dem die Familie zusammenkommt.

Das Wunschbild ist mit einem Weichzeichner versehen: Lachende Gesichter, fröhliche Erzählungen über die Erlebnisse des Tages, Lob fürs leckere Essen, rote Wangen, gefüllte Bäuche.

Die Realität ist oft eine ganz andere, nämlich oft so wie die von Lina, Robin und Annie:

Abgehetzt kommen die Eltern vom Job nach Hause, brutzeln hungrig schnell etwas auf dem Herd, trommeln die Kinder zusammen und sitzen im Idealfall dann mit allen gleichzeitig am Küchentisch. 

Dann geht es los: Lina mäkelt, pult Erbsen aus dem Kartoffelbrei, während Robin die Soße vom Schnitzel schabt. Letzteres wird von Annie gar nicht erst angerührt, wütend schaut sie in die Runde und beschuldigt ihre Eltern des Mordes am Schweinchen, das sie im Schnitzel sieht. Die Mutter hat Verständnis, schließlich hatten sie zusammen die Reportage über Schlachthöfe gesehen, doch dem Papa geht das „ständige Theater jeden Abend“ zunehmend auf die Nerven. Die Mutter versteht seinen Unmut, doch auch sie ärgert sich über die herausgepulten Erbsen und darüber, dass Robin plötzlich keinen Kartoffelbrei will, wo sie doch genau weiß, wie gern er eigentlich Erdäpfel mag. Das Ende vom Lied: Die Einen sind genervt, die Andere heult, die einzige Gemeinsamkeit ist die: Jeder freut sich, wenn das Essen vorbei ist.

Wie gerne würde ich an dieser Stelle ein Patentrezept anbieten, wenn hilfesuchende Eltern mit einem solchen Thema an mich herantreten. Und das ist tatsächlich häufig der Fall, viel häufiger als man denkt. Alleine diese Info – nämlich dass es sehr, sehr viele Menschen ohne weichgezeichnete Kuschel-Blubberblasen-Abendessen-Idylle gibt, ist heilsam und hilfreich. Wir können immer nur vor die Türen der anderen schauen, soviel ist klar.

Einen Schlüssel zum innerfamiliären Essensglück hab ich nicht parat, doch ich möchte versuchen zu erklären, was hier tatsächlich passiert:

Dem ersten Anschein nach spielen Erbsen, Kartoffelbrei, Soße und Schnitzel im oben genannten Szenario die Hauptrolle. Und dabei sind sie bestenfalls die Statisten! 

Perspektivenwechsel:

Vater: Er ist müde, der Tag war stressig. Trotzdem hilft er noch mit, brutzelt das Schnitzel an, während seine Frau sich um die Kartoffeln kümmert. Und keiner schätzt es wert! Keines der Kinder kommt, bietet Mithilfe an oder hat auch nur den Hauch eines schlechten Gewissens, dass nicht mal die Spülmaschinen ausgeräumt wurde. Sagen will er deshalb nichts, er weiß, wie wichtig seiner Frau der Frieden ist, wo sie doch nur so wenig Zeit am Abend gemeinsam haben. Lina isst schon wieder nicht den gesunden Teil des Essens – die Erbsen. Jedes Mal mal fummelt sie stundenlang auf ihrem Teller rum, Mensch, wofür machen sie’s denn überhaupt warm. Ob sie das von Robin hat. Der kratzt sämtliche Gewürze vom Schnitzel, da hätte er sich das Verfeinern echt sparen können. Wieso können hier nicht alle einfach friedlich da sitzen, dankbar essen, was er durch seinen harten Job ermöglicht hat und sich nicht so anstellen. Annie bringt das Fass zum Überlaufen. Als ob hier nicht alles schon kompliziert genug wäre, jetzt kommt sie noch mit Vegetariergeschwätz daher. Das gute Schnitzel. Seine Nerven. Diese Nicht-Anerkennung dessen, was er, als Versorger hier bietet. Er fühlt sich nicht respektiert, nicht gewertschätzt und hat so langsam das Gefühl, die Kinder hätten eine Verschwörung am Laufen.

Mutter: Sie ist müde, der Tag war stressig. Gemeinsam mit ihrem Mann kümmert sie sich ums Essen und räumt mit ihm nebenher die Spülmaschine aus. Sie merkt, dass er schon wieder innerlich brodelt. Sie hat ein schlechtes Gewissen, denn sie hatte es in der Früh nicht mehr geschafft. 

Lina will ihre Erbsen nicht essen. Mensch, das Mädchen macht ihr Sorgen. Egal wie gut das Gemüse versteckt wird, etwas Anständiges, Gesundes bekommt sie einfach nicht in das Kind hinein. Sie denkt über Eisen nach, Proteine, Ballaststoffe und checkt mit einem Seitenblick die Augenringe ihrer Tochter. Dass Robin die Soße vom Schnitzel kratzt, das wundert sie nicht. Er kann es nicht leiden, wenn die Panade matschig wird. Besorgt schaut sie zu ihrem Mann. Ob er es sieht? Annie beginnt mit ihrer Rede über Schlachthäuser, Mord, Massentierhaltung und die maßlose Ungerechtigkeit, dass Schweine und Kühe anders behandelt werden als Hunde und Katzen. Insgeheim gibt sie ihr Recht, doch was soll man da schon machen. Menschen essen halt Fleisch, das war schon immer so und das ist doch auch gesund. Oder? 

Lina: Erbsen!!! Echt jetzt? Glauben die wirklich, sie sähe die grünen Kugeln nicht im gelben Kartoffelbrei? Sie wissen doch genau, das sie nichts Grünes essen mag. Sie hätten doch wenigstens fragen könne, ob sie dem Grünzeug nochmal eine Chance geben möchte. Ungefragt mischen sie ihr Dinge ins Essen, die sie nicht haben will. Es ist doch ihr Körper, ihr Mund, ihre Entscheidung, was sie zu sich nimmt. Sie ist kein kleines Kind mehr. Immer wieder machen sie sowas, das macht sie wütend. Sie fühlt sich übergangen, für doof gehalten und klein. Gleichzeitig hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie weiß, dass nun gleich wieder über sie genörgelt wird, denn Mama schaut schon schräg rüber. Was soll sie nur tun, sie weiß genau, dass ihr nachher der Bauch wieder zwicken wird, wenn sie die vermaledeiten Erbsen herunterwürgt.

Robin: Mannomann. Er hatte sich so sehr aufs Schnitzel gefreut. Er liebt es, das Knuspern, wenn er hineinbeißt. Überhaupt mag er am liebsten nur Speisen, für die er seine Zähne benutzen muss. Darum fällt es ihm jetzt auch schwer, diesen Kartoffelbrei zu essen. Wieso kann man vor dem Zermatschen nicht einfach eine Kartoffel für ihn zur Seite legen? 

Wenn seine Eltern Schnitzel machen, dann schmeckt ihm das super, auswärts bekommt er die Teile gar nicht runter, den dort schmecken sie immer irre salzig, manchmal sogar scharf, durch den Pfeffer. Zuhause ist das nicht so. Doch heute – der SuperGAU! Nicht nur, dass es ihn mit Ekel erfüllt, wie schlonzig die Panade durch diese Soße ist, nein, die übertüncht und übertönt den feinen Geschmack des Fleisches durch, tja, durch was auch immer. Die Gewürze tanzen Tango auf seiner Zunge, was er im Mund hat, könnte jetzt alles sein, das Schnitzel schmeckt und spürt er nicht mehr. Er ist enttäuscht. Und er sieht die enttäuschten Blicke vom Papa. Und die enttäuschten Blicke vom Mama. Und hört, wie Annie anfängt zu erzählen. Da Annie die Größere ist, schaut er schon von je her zu ihr auf. Was sie über tote Tiere erzählt macht Sinn. Nun fühlt er sich noch schlechter. Nicht nur, dass er ein Mörder ist, nein, nun ist dieses Schweinchen, dessen Bild er förmlich vor sich sieht, auch noch unnötig gestorben, weil er dieses Schnitzel auf gar keinen Fall mehr essen kann.

Annie: Sie ist enttäuscht, wütend, traurig und flippt aus. Wie konnten ihre Eltern ihr nur ihr Leben lang Fleisch und Wurst servieren, ohne ihr vorher genau zu erklären, was das alles ist und wieviel dahinter steckt. Wie konnten sie sie dazu bringen, Leid zu verursachen, das vermeidbar gewesen wäre. Wie können sie das alles zulassen. Wieso sehen sie das Unrecht nicht? Mit Mama hat sie die schlimme Reportage gesehen, die sie nachts nicht mehr schlafen lässt. Gestern haben sie über Vegetarismus gesprochen, doch ihre Eltern meinen, dass sie dadurch krank werden würde und Mangelerscheinungen bekäme. Wieso zwingen sie sie jetzt dazu, jeden Abend deshalb Streit anzufangen? Nie, nie wieder wird sie ein Stück Fleisch runterbringen, Ekel und Mitleid schnüren ihr die Kehle zu.

So oder so ähnlich sieht das Szenario aus den jeweiligen Blickwinkeln aus. Was fällt uns auf? Keine einzige Person am Tisch agiert mit der Absicht einen der anderen in irgendeiner Form zu verletzen. Nirgendwo ist auch nur ein Funken Boshaftigkeit vorhanden. Kein Kind WILL die Eltern ärgern, kein Elternteil WILL den Kindern irgendetwas Ungutes. Und um Erbsen geht es kein Stück.

Hier prallen Gefühle aufeinander: Wertschätzung, Respekt, Empathie, körperliche Befindlichkeit, Grenzüberschreitung.

Bringen wir es auf den Punkt, dröseln wir es auf:

Lina: Das Mädchen hat einen sensiblen Verdauungstrakt. Ganz intuitiv weiß sie, dass sie Hülsenfrüchte nicht gut verträgt. Wüsste sie dies, könnte sie ihren Eltern erklären, dass sie ihr vertrauen dürfen, wenn sie ein Nahrungsmittel ablehnt. Sie würde wahnsinnig gerne Mama und Papa glücklich sehen, weil sie alles gebotene Gemüse und Grünzeug isst. Die Gefahr hier steckt darin, dass das Mädchen lernt, die Signale ihres Körpers zu überhören.

Lösungsansatz: Wird ein bestimmtes Lebensmittel oder dessen Kategorie (Hülsenfrüchte, Obst, Kohlsorten, Tomaten) konstant abgelehnt, dann ist es dem Frieden, aber noch viel mehr der Gesundheit des Kindes förderlich, davon abzusehen, darauf zu beharren. Vielleicht steckt hinter der Ablehnung von rohem Obst eine Fruktoseintoleranz, die nun forciert wird? Wenn ein Kind Milch nur mit Hilfe von kiloweise Kakaopulver den Weg in den Magen findet – wieso muss sie dann da rein? Vielleicht ist die Abneigung einfach das klare Zeichen des kindlichen Körpers, das eben diese „Substanz“ nicht gut für ihn ist. Besser: Alternativen finden. In Linas Fall: Erbsen sind nicht die einzigen Protein- oder Eisenlieferanten. Zeitaufwand hierfür: 30 Minuten (Recherche, welche Lebensmittel bieten welche Nährstoffalternativen für Unverträgliches). Gewinn: unermesslich!

Robin ist hochsensibel. Hochsensibilität ist eine neuronale, körperliche Angelegenheit. Unsere Mundhöhle ist superstark innerviert, das weiß jeder, der mal ein Fieberbläschen oder eine offene Stelle in der Wange hatte. Bis zu Annies Vortrag hatte der Junge noch gar kein Problem mit dem Schnitzel an sich. Es ist die Konsistenz matschiger Panade, die sich für ihn im Mund ekelerregend anfühlt. Und das ist seine Realität. Egal, ob wir so etwas auch eklig fänden oder nicht – er spürt Ekel, er leidet darunter. Dazu kommt, dass seine Geschmacksnerven mit den viele Gewürzen der Pulver-Soße komplett überfordert sind. Der emotionale Anteil – das schlechte Gewissen, der Druck, den er sich selbst macht und das Gefühl, komisch zu sein, weil kein anderer würgen muss, wenn Soße auf Panade trifft – all dies schafft Leid.

Besser: Sprechen! Offen fragen: Wieso machst du die Soße wieder runter? Und respektieren: Bevor künftig verschiedene Speisen auf dem Teller miteinander vermischt werden, Rücksicht auf die Bedürfnisse aller nehmen. Zeitaufwand hierfür: 30 Sekunden. Gewinn: unermesslich!

Annie ist hochempathisch. Die Gefühle übermannen sie – die, den Tieren gegenüber, die den Eltern gegenüber, ihr Gerechtigkeitssensor steht kurz vor dem Burnout und die Wellen von Entsetzen, Traurigkeit und Wut klatschen aneinander. Sie fühlt sich unverstanden. Nicht ernst genommen. Verraten.

Lösungsansatz: Sprechen! Hier dürfen sich Eltern ans offensichtlich neue Thema Vegetarismus herantrauen. Sich die Beweggründe von Annie anhören, ihr Seelenleid annehmen und sich darüber freuen, dass ein sehr warmherziges Kind haben. Ob sie nun selbst ihre Ernährung überdenken oder auch nicht: Annies Bedürfnis sollte toleriert und die elterlichen Zweifel und Ängste, beispielsweise mögliche Mangelerscheinungen betreffend, ernst genommen werden. Zeitaufwand hierfür: täglich 5 Minuten lange Recherche, welche Alternative es zum Fleisch-Teil des Abendessens gäbe, zzgl. 2 Stunden Recherche, welche Supplementierungen für Vegetarier Sinn machen, um einem Vitaminmangel vorzubeugen. Diese 2 Stunden kürze ich an der Stelle ab: Schauen Sie sich das Thema Vitamin B12 an – davon profitieren auch die fleischessenden Familienmitglieder. 😉 Gewinn: unermesslich!

Die Eltern: Sie sind beide müde, erschöpft und im Grund einfach nur Harmonie bedürftig. Sie wünschen sich, dass ihre Kinder gesund essen und haben das Gefühl, in ihrer Eltern-/Versorger-/Ernährerrolle nicht ernst genommen zu werden. Von ihren eigenen Eltern haben sie gelernt, dass man isst, was auf den Teller kommt und eine gesunde Mahlzeit aus einem Fleisch, einem Gemüse und einem Sattmacher besteht.

Lösungsansatz: Ehrlichkeit! Sagen Sie ihren Kindern, was in ihnen vorgeht. Denn die wissen nichts davon, sie beziehen Ihren Unmut auf sich und ihre Person. Ebensosehr, wie Sie die Ablehnung und das Herumgemäkele persönlich nehmen. Deligieren Sie. Ein Kind leidet weniger darunter, 10 Minuten lang eine Spülmaschine ausräumen zu müssen, als unter einem täglich wiederkehrenden unharmonischen Abendessen.

Lassen Sie uns rechnen: 30 Minuten + 30 Sekunden + 5 Minuten + 30 Minuten…

… Ach, lassen wir das, Sie wissen sicher schon worauf ich hinaus möchte. Sprechen Sie miteinander, schauen Sie, was wirklich dahinter steckt und wannimmer Sie etwas ganz gewaltig nervt und Sie denken, dass das jetzt persönlich gemeint war, dann atmen Sie durch, gehen Sie gedanklich einen Schritt nach hinten und schauen Sie wie ein Zuschauer auf das Szenario. Und dann einen Blick in den Spiegel: Warum geht Ihnen das jetzt so nahe? Warum ist Ihnen jetzt diese „Erbse“ so wichtig? 

Investieren Sie Zeit, Geduld und Interesse, ein besseres Investment gibt’s gar nicht. Denn der Profit liegt im Frieden. Dem Frieden, den Sie so gerne hätten, an Ihrem Tisch.

Für das Paracelsus Magazin durfte ich den folgenden Artikel schreiben:

Im Zuge des Hochsensibel Kongresses wurde ich von Sylvia Harke interviewt. Hier ein ca. 10 minütiger Auszug des Videos zu den Themen „Konflikte am Tisch, Picky Eaters und Veganismus/Vegetarismus“.