Das sind die 7 Stolpersteine in der Erziehung hochsensibler Kinder

Artikel erschienen im Onlinemagazin Huffington Post
19/10/2015 05:16 CEST | Aktualisiert 19/10/2016 07:12 CEST

Das sind die 7 Stolpersteine in der Erziehung hochsensibler Kinder
Petra Neumann  Autorin, Heilpraktikerin, Fremdsprachenkorrespondentin 

Ich werde nicht müde, die Vorzüge und „Superkräfte“ hochsensibler Kinder zu verdeutlichen und hervorzuheben, welch Segen es ist, einen Superfühlkrafthelden großzuziehen. Doch die Elternschaft eines sensitiven Kindes birgt, wie jede Elternschaft an sich, auch Stolpersteine:

1. Überidentifizierung

Ich liebe mein Kind. Ich kenne mein Kind besser, als jeder andere Mensch auf dieser Welt. Wie es denkt, wie es fühlt, mit der Zeit wurde es wie ein offenes Buch für mich. Sein Schmerz ist mein Schmerz, seine Freude zugleich meine.

Aber ich bin nicht mein Kind, und es ist nicht ich! Egal, wie sehr ich meine, mich selbst in ihm wiederzufinden – es ist und bleibt ein Individuum. Auch wenn ich denke, alle Facetten seines Wesens zu kennen: Es wird immer wieder Momente geben, in denen es mich überrascht.

Mit ungeahnter Stärke. Und Resilienz in Angelegenheiten, in denen mir stellvertretend das Herz blutet. Die mich schmerzen. Ich muss mir klar machen, dass diese, meine Schwachstellen, mit meinem Leben, meiner Erfahrung und meinen Erlebnissen zu tun hat.

2. Überbehütung

Wie gerne möchte ich meinem Kind alles abnehmen, was es belastet. Ein Schutzschild sein. Ich empöre mich über all die Zumutungen, Unsensibilitäten und Gefahren für seine Seele. Doch ich weiß, ich kann nicht immer da sein. Es nicht vor allem bewahren.

Mein Kind kann nur lernen, für sich selbst einzustehen, wenn es dies auch nach und nach immer mehr tun muss. Ich lerne, ihm zuzutrauen auch wieder aufzustehen, wenn es hinfällt. Sich selbst wieder zu motivieren, wenn es Misserfolge hat. Nur so kann es stärker werden. Jederzeit bin ich hilfsbereit, ich verarzte seine Wunden jeglicher Art. Mein Zutrauen bestärkt es in seinem Selbstwert und Selbstvertrauen.

3. Abhärtung

Manchmal packt mich die Ungeduld. Es macht mich narrisch zu sehen, dass sich mein Kind selbst im Weg steht, weil es sich weniger traut, als die Altersgenossen. Wie es nicht ernst genommen wird von den Klassenkameraden, weil es beim „Pferde stehlen“ aus Sorge um die Konsequenzen nicht dabei ist.

Wenn es unglücklich ist, weil es nicht die sportlichen oder gesellschaftlichen Erfolgserlebnisse hat, wie die anderen Kinder. „Stell dich nicht so an!“ „Jetzt reiß dich doch zusammen, die anderen können’s auch!“ Diese Sätze und ähnliche rutschen mir heraus. Mal in Gedanken, mal tatsächlich ausgesprochen.

Das was erhoffe ich mir dadurch? Welches Gefühl vermittele ich meinem Sprössling? Alles, was damit ausgedrückt wird ist Herabsetzung, destruktive Kritik, Enttäuschung. Das Gegenteil dessen, was ich möchte, wird damit erreicht. Ich schwäche mein Kind.

4. Glorifizierung

Wie sehr ich es liebe! Mit jeder Faser meines Herzens. Und das ist auch gut so. Es gibt kaum ein schöneres Geschenk, das ich meinem Kind machen kann. Ich liebe es seines Daseins-wegen. Es ist mein Fleisch und Blut. Ich liebe es für sein Wesen, seinen Charakter, seine Art die Dinge zu sehen.

Dafür, dass ich seine Mama sein darf. Doch ich bin mir im Klaren darüber, dass auch mein Kind nicht perfekt ist. Keiner ist das. Indem ich es lehre, Selbstreflexion zu betreiben, schenke ich ihm die Möglichkeit, sich stets weiterzuentwickeln.

Hochsensible Kinder sind von Natur aus eher selbstkritisch. Daher ist es gut, vorsichtig zu sein, wenn ich finde, dass ich etwas ansprechen muss. Doch den Nachwuchs zu glorifizieren schadet ihm nicht nur, es sorgt auch dafür, dass ich unglaubwürdig werde. Wenn „eh alles perfekt ist“, wie wertvoll ist dann mein Lob, wenn es tatsächlich angebracht ist?

5. Verkopfung

Ja, es ist ein etwas anderes Familienleben mit einem hochsensiblen Kind. Hochsensibilität ist weder Krankheit, noch Defekt, Störung oder ähnliches. Eine Normvariante. Und ja, die Elternschaft eines solchen Superfühlkrafthelden erfordert manchmal andere Denkansätze, Methoden, Tricks, Kniffe. Die Welt der Informationen steht uns Eltern offen.

Erziehungsratgeber en masse werden ergänzt durch unzählige facebook-Gruppen, Foren, Elterntreffs und Webseiten, gewürzt durch wohlgemeinte Ratschläge der Verwandtschaft, Erzieherinnen und Lehrer. Das ist großartig. Solange diese Fülle an Anregungen mit Bedacht aussortiert wird. Ich nehme, was ich brauchen kann, was zu uns passt.

Und alles andere lege ich beiseite. Elternschaft funktioniert nicht nach Checkliste, Kapitel und Erfahrungen anderer. Sie funktioniert mit Liebe, Intuition, Individualität, Wertschätzung und der Offenheit gegenüber Informationen von außen. Und zwar genau in dieser Reihenfolge.

6. Aufopferung

Letztlich bin ich Mensch. Ich bin Elternteil, Beschützer, Anwalt meines Kindes, Seelsorger, Nachhilfelehrer, Eventmanager, Sorgenträger, Zudecker, Bauchstreichler, wohlwollend, fördernd, engagiert und motiviert in meiner Aufgabe als Mutter. Doch ich bin Mensch. Bei all meiner Liebe kann ich nur geben, wenn ich habe. Und manchmal habe ich keine Kraft. Manchmal reicht sie nicht für die ganze Familie. Und das ist in Ordnung.

Nicht nur die Kinder sind sensibel und überreizbar. Ich bin es auch. Also erlaube ich mir meine Schwächen. Ich erlaube mir auch einmal zu sagen: „Ich kann verstehen, dass du mich dafür nun brauchst. Aber gerade ist mir das zuviel. Gib mir Zeit, in einer halben Stunde habe ich neue Kraft. Gerade könnte ich mich gar nicht ganz auf dich konzentrieren.“

Das ist in dem Moment für mein Kind vielleicht frustrierend. Doch wäre es letztlich nicht frustrierender, wenn ich nur halbherzig zuhöre? Oder irgendwann komplett ausgelaugt bin? Außerdem werde ich damit meiner Vorbildfunktion gerecht: Mein Kind sieht, dass es in Ordnung ist, wenn man dazu steht, dass man auch Auszeiten, Erholungsmomente braucht.

7. „Muss“-Konstrukte

„Müssen“ tun wir fast gar nichts. Und schon gar nicht dem Idealbild der Gesellschaft entsprechen, die ihre Maßstäbe in der Durchschnittsnorm festmacht. Das „muss“ ist jedoch fest in unserem Gehirn verankert. Vom Säuglingsalter meines Kindes an werde ich mit „Muss-Konstrukten“ konfrontiert. Ab der Woche x muss das Kind Beikost bekommen, ab diesem und jenem Alter muss es im eigenen Bett schlafen, wo es dann ab dem passenden Alter auch bitteschön durchschlafen muss.

Mit drei Jahren muss es dann in den Kindergarten, wo es Spaß haben muss, keine Probleme haben darf, Freunde zu finden, und so weiter und so fort. Ein Junge muss sich gerne in sportlichen Wettkämpfen messen, ein Mädchen muss rosa Röcke klasse finden.

Die Tante muss höflich auf die Backe geküsst werden und wenn wir nicht in jedem Verein des Dorfes mitfeiern, dann stimmt etwas nicht. Jedoch: Wir müssen nix. Wenn wir uns davon frei machen und endlich wieder lernen, auf unser Bauchgefühl zu hören, liebevoll und wohlwollend, verständnisvoll und priorisierend auf unsere kleinen Helden einzugehen, dann werden sie ganz automatisch zu Menschen, die gar nichts sein „müssen“, da sie es von sich aus sein wollen: Wertvolle Mitmenschen, empathische, selbstbewusste und liebevolle Erdenbürger.

Sie fragen sich, warum ich von einer „Superfühlkraft“ spreche? Diese Bezeichnung stammt aus dem Buch Henry mit den Superkräften – oder warum in jedem Kind ein Held steckt. Eine Leseprobe finden Sie hier: 

www.high-sensitivity.de